FMH Geschäftsbericht
Geschäftsbericht 2016

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Dr. med. Jürg Schlup

Präsident der FMH

1. «If everyone had to think outside the box, maybe it was the box that needed fixing» (Malcolm Gladwell, «What the Dog Saw»). Wie interpretieren Sie dieses Zitat, umgemünzt auf das Schweizer Gesundheitswesen?

Jürg Schlup: Die Box in unserem Gesundheitswesen heisst Obligatorische Krankenpflegeversicherung: Man spricht eigentlich von Prämien und meint die Gesundheitskosten. Tatsächlich werden aber nur 40 Prozent der Gesundheitskosten durch die Prämien finanziert. Den grössten Teil der Kosten vernachlässigen wir.

Und das Wichtigste ist, dass wir auch den Nutzen ausblenden: Wir diskutieren zum Beispiel, was neue Hüften für 85-Jährige kosten, wir schauen aber nicht darauf, was alte Menschen dafür gewinnen und dass wir mit diesen neuen Hüften nicht nur Schmerzmittel einsparen, sondern auch Pflegekosten.

Unsere Box heisst «Prämiensicht». Ausserhalb der Box zu denken, heisst, eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Gesamtsicht anstellen, doch die Prämiensicht blendet den Grossteil der Kosten aus und verschweigt den Nutzen.

2. Wie müssten die Organisationsstrukturen ausgestaltet sein, damit das Schweizer Gesundheitswesen optimal im Wettbewerb aufgestellt ist?

Jürg Schlup: Unsere Organisationsstrukturen müssen der gesellschaftlichen Entwicklung folgen. Diese Entwicklung bedeutet zum Beispiel mehr Chronischkranke und weniger Akutkranke. Das heisst, mehr ambulante und weniger stationäre Versorgung.

Unser heutiges Finanzsystem bremst diese Entwicklung. Denn mehr ambulante Versorgung treibt die Prämien in die Höhe, weil ambulant allein prämienfinanziert ist. Stationäre Versorgung ist zwar teurer, kostet aber deutlich weniger Prämien, weil sie mehrheitlich steuerfinanziert ist.

Wir brauchen eine einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Behandlungen, damit der Prämienzahler von den Einsparungen durch ambulant vor stationär profitieren kann.

3. Wie wird sich der Arztberuf verändern? Und wie verändern sich die anderen Gesundheits- und Medizinalberufe?

Jürg Schlup: Die Rolle von Ärztinnen und Ärzten verändert sich wie die Rollen aller andern Medizinal- und Gesundheitsberufe auch zusammen mit den Patienten. Die Frage ist also: Wie verändern sich die Bedürfnisse und Wünsche der Patientinnen und Patienten?

Wichtige Entwicklungen sind hier, dass Patienten immer besser informiert sind und eine immer aktivere Rolle in der Behandlung einnehmen. Der Arzt ist für sie sowohl medizinischer Experte als auch Bergführer, der ihnen hilft, mit den vorhandenen medizinischen Möglichkeiten den optimalen Patientennutzen zu erreichen.

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Dr. med. Anja Zyska Cherix

Vizepräsidentin des VSAO

1. «If everyone had to think outside the box, maybe it was the box that needed fixing» (Malcolm Gladwell, «What the Dog Saw»). Wie interpretieren Sie dieses Zitat, umgemünzt auf das Schweizer Gesundheitswesen?

Anja Zyska Cherix: Aus dem Blickwinkel der Assistenz- und Oberärzte erinnert mich dieses Zitat an die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Arbeitsgesetzes in den Spitälern.

Bislang finden die Überlegungen oft nur «outside the box» statt. Sprich: Wie viele Ärzte und Ärztinnen braucht es, um die Arbeit innerhalb der verfügbaren Zeit zu leisten? Wie viele Stunden gilt es pro Woche oder Monat einzuplanen?

Dabei sollte man auch dem Inhalt der Box Beachtung schenken. Sprich: Was macht der Arzt an seinem Arbeitstag oder in seiner Arbeitswoche? Und welche Aufgaben fallen ihm genau zu?

Schliesslich sollte man – um die Box besser zu befestigen – darüber nachdenken, welche Tätigkeiten eigentlich integraler Bestandteil der ärztlichen Arbeit sind.

Und zwar im Kontext eines Klinikalltags und einer ärztlichen Tätigkeit, die sich in den letzten 20 Jahren erheblich weiterentwickelt haben. Es bedarf einer Unterscheidung zwischen rein medizinischen Aufgaben, die auch solche bleiben sollen, und Aufgaben, die beispielsweise an Pflegepersonal oder medizinische Praxis- bzw. Stationsassistentinnen delegiert werden können.

Ich bin überzeugt, dass eine bessere Rollendefinition der einzelnen Akteure hilfreich wäre, um der Überlastung der Ärztinnen und Ärzte entgegenzuwirken.

2. Wie müssten die Organisationsstrukturen ausgestaltet sein, damit das Schweizer Gesundheitswesen optimal im Wettbewerb aufgestellt ist?

Anja Zyska Cherix: Bei Reflexionen über die Optimierung oder gar Rationalisierung des Gesundheitssystems darf man nicht vergessen, dass es hier im Unterschied zu anderen Branchen um kranke Menschen geht, um Patientinnen und Patienten, bei denen man nicht den gleichen Massstab anlegen kann wie beispielsweise bei Handelsware.

Gleiches gilt auch für das Personal im Gesundheitswesen: Welches wäre das beste Preis-Leistungs-Verhältnis eines Arztes oder eines Spitals?

Ich bin der Ansicht, dass die Grundsätze der Behandlungsqualität und -optimierung in der Medizin wichtig sind und wirtschaftliche Aspekte durchaus berücksichtigt werden müssen. Aber bei der Debatte um die Konkurrenzfähigkeit des Gesundheitssystems gilt es immer im Hinterkopf zu behalten, dass es sich nicht um eine exakte Naturwissenschaft oder einen Handelssektor handelt und dass man Ärzten wie Patienten bei medizinischen Entscheidungen einen gewissen Handlungsspielraum lassen muss.

3. Wie wird sich der Arztberuf verändern? Und wie verändern sich die anderen Gesundheits- und Medizinalberufe?

Anja Zyska Cherix: Der Arztberuf hat sich immer schon mit der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse gewandelt und wird es weiterhin tun. Anpassung und Weiterbildung sind somit Elemente, die auch nach dem Studium in Form von Fortbildungen dauerhaft Teil der ärztlichen Praxis bleiben.

Aber der Fortschritt betrifft auch die Verwaltung und den Betrieb: Durch die unvermeidliche Informatisierung, welche die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte zunehmend prägt, verbringen diese heutzutage immer mehr Zeit vor dem Bildschirm.

Wie dem auch sei: Der Patient wird immer im Mittelpunkt des Arztberufes stehen. Erst durch den Kontakt und die Beziehung zwischen Patient und Arzt entsteht die Sinnhaftigkeit der Behandlung. Egal, welcher medizinischen oder politischen Entwicklung die ärztliche Tätigkeit auch unterworfen sein mag, daran gilt es sich zu erinnern.

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Marcel Altherr

Leiter Interdisziplinärer Schwerpunkt Datenwelten, Hochschule Luzern

1. «If everyone had to think outside the box, maybe it was the box that needed fixing» (Malcolm Gladwell, «What the Dog Saw»). Wie interpretieren Sie dieses Zitat, umgemünzt auf das Schweizer Gesundheitswesen?

Marcel Altherr: Ich denke, es gibt mehrere Boxen im Schweizer Gesundheitswesen, auf die das zutrifft. Eine ist sicher das Denken in den gegebenen Strukturen. Digitalisierung reisst Wertschöpfungsketten auf, schafft neue. Das war bei anderen Branchen so, das wird auch die Gesundheitsbranche treffen. Dieses Denken im Gegebenen, das ist, und das Vertreten der jeweils nur eigenen Interessen sehe ich als die grösste Box an, die auf diese Definition zutrifft.

2. Wie müssten die Organisationsstrukturen ausgestaltet sein, damit das Schweizer Gesundheitswesen optimal im Wettbewerb aufgestellt ist?

Marcel Altherr: Gerade im Gesundheitswesen herrschen Organisationsformen vor, die aus dem vorletzten Jahrhundert stammen, die den Anforderungen der heutigen Zeit nicht mehr angemessen sind. Organisationen heute müssen schneller lernen, schneller reagieren, schneller Neues entwickeln können. Dazu braucht es agile, schlanke Organisationsformen, verteilte Strukturen und eine Kommunikation der Mitarbeiter auf Augenhöhe.

3. Wie wird sich der Arztberuf verändern? Und wie verändern sich die anderen Gesundheits- und Medizinalberufe?

Marcel Altherr: Wie alle anderen Berufsgruppen auch wird der Arztberuf oder die Pflegeberufe oder alle anderen Berufe im medizinischen Bereich massiv digitalisiert werden und sich damit auch massiv verändern. Einige Berufe, nehme ich an, wird es nicht mehr geben – einige wird es wohl neu geben. Mit der Digitalisierung, so die Hoffnung einiger Gruppen, wird das, was uns analoge Menschen ausmacht – Empathie, Intuition, Emotion – zu einem raren Gut und vielleicht, so die Hoffnung, könnten dann die guten alten ärztlichen Tugenden, scheinbar paradox, eine Renaissance erleben.

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